Vorwort

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Der Künstler Dirk Müller widmet sich in seiner Kunst dem Menschen. Jedes seiner Werke ist eine Zuwendung zum Menschen. Er ist fasziniert von dessen Vielfalt und zugleich Einzigartigkeit. Und seine Skulpturen sind Ausdruck von Menschlichkeit. In ihnen begegnet uns der Mensch in seiner Schönheit ebenso wie in seiner Verletzlichkeit, in seiner Erhabenheit ebenso wie in seinem Leid, in seiner Vollkommenheit ebenso wie in seiner Zerbrechlichkeit.

Bereits in frühen Jahren fühlt sich Dirk Müller angezogen von figurativen Darstellungen. Das Werk Oskar Schlemmers und sein Triadisches Ballett inspirieren ihn. Auch die expressionistisch-realistische Kunst von Käthe Kollwitz zieht ihn an. Vermutlich, weil auch ihre Kunst eng verwoben ist mit ihren eigenen Erfahrungen und Lebensumständen.

In seiner Ausbildung zum Tischler kommt er in Kontakt mit der handwerklichen Bearbeitung und Gestaltung von Materialität. Diese Erfahrung prägt sein frühes Werk. Doch seine Ausbildung reicht ihm nicht. Er sehnt sich danach, die Welt zu entdecken. Im Aufnahmegespräch der Kunsthochschule Kassel ist es der Satz von Professor Hans Ell, der ihn letztlich bewegt, Industrial Design zu studieren: „Wenn du dich kennenlernen willst, gehe in die Welt. Wenn du die Welt kennenlernen willst, kannst du auch zuhause bleiben.“ Fortan ist sein künstlerischer Ausdruck auch eine Reise zu sich selbst – eine Selbsterfahrung in der Begegnung mit dem anderen, dem von sich selbst Verschiedenen.

Damit liegt dem künstlerischen Werk von Dirk Müller ein universelles Grundprinzip zugrunde: sich im anderen zu erkennen – sowohl in der Ähnlichkeit als auch in der Verschiedenheit. In der Auseinandersetzung mit der figurativen Kunst Dirk Müllers kann sich der Mensch selbst erkennen. Die Figur des anderen wird zum Spiegel, in dem der Betrachter sich selbst erfahren und erkunden kann. Seine Kunst lässt einen nicht unberührt. Sie lädt ein in einen resonanten Prozess von introspektiver Selbstbetrachtung.

Die frühe Phase Dirk Müllers ist durch die expressionistische Komposition gekennzeichnet. Die figürliche Darstellung folgt dem Ausdruck, der sich dem Künstler durch die Wahl der Materialität anbietet. Auf diese Weise entstehen Werke von einzigartiger Schönheit und Ästhetik.

Auf einer Reise in die Toskana kommt Dirk Müller in Kontakt mit dem künstlerischen Werk von Roberto Cipollone, kurz „Ciro“. Auch Ciro arbeitet mit unterschiedlichsten Materialien, die er findet und mit denen er neue Gestalten komponiert. Es sind jedoch vor allem die landwirtschaftlichen Arbeitsgeräte, die Dirk Müller im Werk von Ciro inspirieren, und denen er sich in seinem eigenen künstlerischen Wirken vermehrt zuwendet: den Feldhacken, Spitzhacken, Dechseln, Äxten, Hippen, oder dem Wiedehopf.

Sie sind die ältesten Werkzeuge des sesshaften Menschen. In ihnen offenbart sich seine Zivilisations-geschichte. Bis heute machen sich Menschen mit ihnen das Land urbar und nutzbar. Im künstlerischen Werk von Dirk Müller symbolisieren sie die existenzielle Verbundenheit des Menschen mit der Welt. Und die sichtbaren Spuren ihre Benutzung verweisen auf die Menschen, die mit ihnen gearbeitet haben. Auf diese Weise erzählen sie etwas über den Menschen und wie er gelebt hat – oft über Generationen hinweg.

Dirk Müller nutzt fortan vor allem die benutze, abgearbeitete Hacke als allegorische Darstellung des Menschen. In ihrer funktionalen Varianz gelingt es ihm, die Vielfalt des menschlichen Seins anzudeuten. Es ist nicht mehr als ein Andeuten. Die Gegenstände als solche lässt Dirk Müller oft unverändert und unbehandelt. Sie wirken in ihrer Ursprünglichkeit und Einfachheit. Allenfalls Akzente fügt er hinzu, etwa eine Blattvergoldung. Er lässt die Hacke in ihrer allegorischen Kraft für sich sprechen. Sie lädt den Betrachter ein, hinter der ursprünglichen Funktionalität die Spuren des Lebens und der Begegnung wahrzunehmen. Auf diese Weise werden Menschen hinter den Werkzeugen sichtbar.

So gelingt es dem Künstler, in der Betrachtung seiner Kunst einen inneren Prozess des Erkennens anzustoßen ohne sich aufzudrängen. Darstellung und eigenes Erleben können sich verbinden zu einer einzigartigen Erfahrung, die von niemandem sonst geteilt werden muss. Der figurative Ausdruck entsteht erst durch die Betrachtung, die ebenfalls einzigartig ist, wie der Mensch selbst.

Zugleich spielt Dirk Müller bewusst mit der Materialität der Hacken. Ihre ursprüngliche Funktionalität ebenso wie die Spuren ihres Gebrauchs bieten sich in der künstlerischen Darstellung für den Betrachter als Gegenüber an. Auf diese Weise lassen sich Freude ebenso wie Leid wahrnehmen, Verbundenheit ebenso wie Einsamkeit, Ganzheit ebenso wie Zerrissenheit, Körperlichkeit ebenso wie Transzendenz.

Über die Jahre haben sich Schwerpunkte herausgebildet, denen Dirk Müller in immer neuen Variationen nachspürt. Es sind vor allem Darstellungen des einzelnen Menschen, von Paaren und Familien, Szenen der Begegnung und letztlich Symbole von Spiritualität, die das Oeuvre ausmachen.

So begegnen wir in seinem Werk der Familie als Nukleus des Sozialen, des Menschlichen in der intimen Begegnung und bergender Nähe. Einige der Skulpturen greifen das Motiv der Heiligen Familie auf, mit Jesus als dem einschneidenden Erlebnis von Fremdheit, das in die Welt kommt und sie irritiert.

Neben der Familie spielt das Motiv des Einzelnen in seiner Einzigartigkeit, Besonderheit, seinem charaktervollen Ausdruck eine besondere Rolle. Die Skulpturen laden ein, den Lebensspuren des Einzelnen zu begegnen, dem geschundenen, abgearbeiteten, aussortierten, ausgemusterten, kaputten, zerrissenen, verletzlichen Menschen, der zugleich in seiner gestalthaften Präsenz eine ganz eigene Würde erlangt. Aber auch dem aufrechten, kraftvollen, zugewandten, nachdenklichen, verspielten, stillen, oder in sich gekehrten Menschen können wir begegnen.

Das Motiv der Begegnung findet sich ebenfalls in zahlreichen Variationen. Dabei entscheiden oft Millimeter in (Zu-)Wendung und Neigung darüber, welcher Ausdruck entsteht. Manche der Skulpturen sind so geschaffen, dass der Betrachter die (Zu-)Ordnung der Figuren verändern kann. Auf diese Weise entstehen dynamische Inszenierungen entsprechend der Wahrnehmungen des Betrachters.

Schließlich findet sich das spirituelle Motiv, etwa in vergoldeten Darstellungen eines zugewandten Engels oder der Akzentuierung besonderer Merkmale, die den Einzelnen auszeichnen, ihn heilig sein lassen. Auf diese Weise entstehen Königskinder und Kronenträger, Menschen, die gezeichnet sind mit dem Heiligen, dem Besonderen.

Letztlich ist es die Begegnung mit der eigenen Menschlichkeit, aus der die Kunst von Dirk Müller ihre besondere Kraft entfaltet. Wer sich ihr hingibt, begegnet letztlich sich selbst.

Dr. Michael Korpiun
Januar 2024